13.01.2016taz. die tageszeitung


Die große Liebe



Am S-Bahnhof Westend stolpere ich am späten Abend vor Müdigkeit beinahe über einen älteren Mann. Er nutzt meine Entschuldigung, um ein Gespräch zu beginnen: „Das ist die schlimmste Zeit zum Umsteigen hier“, sagt er. „Besonders, wenn man nur noch nach Hause will“, stimme ich zu. „Ich habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Da wartet nichts mehr auf mich“, sagt er. „Auf mich wartet nur noch der Tod. Da schlage ich mir die Zeit lieber mit Rumfahren um die Ohren. Da kann man wenigstens was beobachten oder ein paar Worte wechseln.“

Ich weiß nicht, was ich ihm entgegnen soll. Etwas hilflos sage ich: „Hätte ich keine Verpflichtungen, würde ich mir die Zeit mit Lesen vertreiben.“ „Lesen“, winkt er ab. „Das hat nichts mit meinem Leben zu tun.“ „Aber es kann doch schön sein, sich durch Bücher in fremden Leben zu verlieren“, versuche ich ihn zu motivieren.

Er schüttelt heftig den Kopf: „Ich will die Zeit nur noch rumkriegen.“ Ich sehe ihm ins Gesicht. Er ist erst circa 70 Jahre alt. Die S-Bahn kommt und wir steigen zusammen ein und setzen uns einander gegenüber. Nach zwei Stationen Schweigen setzt er sich in einigem Abstand auf meine Bankseite und sagt leise: „Es war genau heute vor zehn Jahren. Ein Anruf, dass sie im Krankenhaus ist. Dann, wenige Stunden später, dass sie nichts mehr machen konnten.“

Er schüttelt den Kopf und fängt an zu weinen. „Nichts mehr machen. Das glaube ich bis heute nicht. Es ist doch niemand von einem Moment auf den nächsten so einfach tot. Vor allem sie nicht. Sie war eine ganz Toughe. Ukrainerin, Ingenieurin. Die hatte schon ganz anderes als ihre Leukämie überlebt. Schiefgelaufene Laborversuche, Tschernobyl. Das war eine ganz Große. Die ganz große Liebe. Nach ihr kann nichts mehr kommen in meinem Leben.“