Dezember/Januar 2015/16 Stadtteilmagazin Wilma


Eine Kiste toter Füße


©Tanja Schnitzler

Das Schuhhaus Hartmann in der Pichelsdorfer Straße 132 ist eines der ältesten, noch bestehenden Handwerksgeschäfte im Kiez: Die Schuhmacher Maria und Joseph Hartmann eröffneten den Laden 1948. Auch heute noch ist Hartmann ein Familienbetrieb. Das Geheimnis: eine ungewöhnliche Kombination aus Schuhhandel und Orthopädie-Fachgeschäft.



In den Werkstatträumen riecht es nach Leim, Maschinen rotieren. In einem Raum fräst eine Maschine Schuheinlagen abdruckgenau aus, in einem anderen steht eine Mitarbeiterin vor einer großen Kiste „toter Füße“. So werden von den Mitarbeitern Leisten genannt: Holzfüße, die individuellen Fußabdrücken nachempfunden sind und die Grundlage für orthopädische Maßanfertigungen bilden.

Wer in den großen, hellen Ladenräumen steht, ahnt allerdings nichts vom regen Betrieb in der Werkstatt. In den Regalen finden sich derzeit neben Pumps vor allem winterfeste Schuhe aller Art: Schnürschuhe, Herrenhalbschuhe, elegantere knielange Damenlederstiefel. Stünde am Ladenschild draußen nicht groß “Orthopädie” unter “Schuhhaus”, würde einem erst nach längerer Betrachtung des Sortiments oder beim Anprobieren einzelner Schuhmodelle auffallen, dass es sich bei Hartmann um keinen gewöhnlichen Schuhladen, sondern um ein Orthopädie- und Bequemschuh- Geschäft handelt.

Doch auch als solches ist Hartmann ungewöhnlich: Andere Orthopädie-Läden machen in einem kleinen Nebenraum Spezialanfertigungen für ihre Kunden. Aber die Kombination aus breit aufgestelltem Schuhladen mit großem Gesundheitsschuh- Sortiment und angegliederter Werkstatt für Spezialanfertigungen macht Hartmann zu etwas Besonderem.

Insgesamt gibt es drei Filialen: Die in der Pichelsdorfer Straße, eine in Wilmersdorf und eine in Neukölln. Die eigentliche Werkstatt befindet sich in Wilmersdorf, erzählt die kaufmännische Angestellte Bärbel Zech. Hier in der Pichelsdorfer Straße werden Leisten, Einlagen und Bettung gefertigt. Die Spandauer Filiale war die erste: Sie wurde vom Schuhmachermeister-Ehepaar Maria und Josef Hartmann 1948 eröffnet, zu einer Zeit, in der die Pichelsdorfer Straße eine gute Einkaufsmeile mit vielfältigen Geschäften für jeden Bedarf war.

Bärbel Zechs Mann Philip Zech übernahm 1989 das Hartmann-Stammhaus. Er hatte in der Pichelsdorfer bei Hartmanns seine Meister-Anerkennungsjahre gemacht. Bärbel Zech selbst ist examinierte Ergotherapeutin und mittlerweile seit 25 Jahren in der Filiale in der Pichelsdorfer Straße tätig. In diesen Jahren hat sich vieles verändert: die Kunden sind älter geworden, manche in die neuen großen Geschäfte der Altstadt abgewandert. Die Nachfrage nach orthopädischen Spezialschuhen für Kinder ist seit den 80ern enorm gesunken, deshalb führt Hartmann auch keine Kinderschuhe mehr im Sortiment.

Bei den Spezialanfertigungen aber ist alles möglich: Kinder- wie Erwachsenenschuhe, klassische und ausgefallenere Modelle – von schlichten Schnürschuhen über Turnschuhe im Wunschdesign bis hin zu pinken Loafers aus Lackleder mit Kroko-Prägung: Heute müssen orthopädische Spezialschuhe nicht mehr altbacken und klobig aussehen. Zu abgefahren dürfen die Designs natürlich auch nicht sein: Alles muss im Rahmen der medizinischen Notwendigkeit bleiben, sonst zahlen die Kassen nicht.

Auch Bärbel Zech trägt Bequemschuhe. Die dreifache Mutter leitet die Geschäfte ihres Mannes – im Grunde ist es ein Familienbetrieb wie eh und je. Doch in der Wilhelmstadt hat sich vieles verändert. „Heute“, erzählt Bärbel Zech mit Blick auf den Leerstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, „denken selbst besser situierte Kunden über jede Investition nach.“ Im Unterschied zur Wilmersdorfer Filiale: „Da lassen sich die Kunden manchmal auch Schuhe ohne Rezept fertigen, um nicht extra zum Arzt zu müssen.“

Bärbel Zech ist es nicht egal, was aus der Wilhelmstadt wird. Mit den Inhabern der benachbarten Geschäfte steht sie in regem Austausch. Man hilft sich und engagiert sich, wo man kann. Dieses Jahr übernimmt Bärbel Zech daher auch die Organisation einer gemeinsamen Aktion mehrerer Wilhelmstädter Gewerbetreibender, die vom Gebietsfonds gefördert wird: Wie schon im letzten Jahr werden vor etlichen Geschäften im Kiez beleuchtete Weihnachtsbäumchen stehen: „Die Idee, einheitlich geschmückte Bäume vor den Geschäften zu haben, fand ich einfach toll. Und mit Logistik und Abrechnung haben wir hier ja ständig zu tun – daran soll es nicht scheitern.“

Bärbel Zechs Gefühl für den traditionellen Standort lohnt sich: Manche Stammkunden halten der Filiale in der Pichelsdorfer Straße nun bereits seit 65 Jahren die Treue: „Einige waren schon als Kinder hier, kommen nun mit eigenen Kindern und Enkeln wieder und erzählen von alten Zeiten. So etwas macht glücklich und ist eine schöne Bestätigung, dass ein Einzelhandel mit festem Standort auch heutzutage noch seine Berechtigung hat.“