Dezember/Januar 2015/16 Stadtteilmagazin Wilma
In den Werkstatträumen riecht es nach
Leim, Maschinen rotieren. In einem Raum
fräst eine Maschine Schuheinlagen abdruckgenau
aus, in einem anderen steht
eine Mitarbeiterin vor einer großen Kiste
„toter Füße“. So werden von den Mitarbeitern
Leisten genannt: Holzfüße, die individuellen
Fußabdrücken nachempfunden
sind und die Grundlage für orthopädische
Maßanfertigungen bilden.
Wer in den großen, hellen Ladenräumen
steht, ahnt allerdings nichts vom regen Betrieb
in der Werkstatt. In den Regalen finden
sich derzeit neben Pumps vor allem
winterfeste Schuhe aller Art: Schnürschuhe,
Herrenhalbschuhe, elegantere knielange
Damenlederstiefel. Stünde am Ladenschild
draußen nicht groß “Orthopädie”
unter “Schuhhaus”, würde einem erst nach
längerer Betrachtung des Sortiments oder
beim Anprobieren einzelner Schuhmodelle
auffallen, dass es sich bei Hartmann um
keinen gewöhnlichen Schuhladen, sondern
um ein Orthopädie- und Bequemschuh-
Geschäft handelt.
Doch auch als solches ist Hartmann ungewöhnlich:
Andere Orthopädie-Läden machen
in einem kleinen Nebenraum Spezialanfertigungen
für ihre Kunden. Aber
die Kombination aus breit aufgestelltem
Schuhladen mit großem Gesundheitsschuh-
Sortiment und angegliederter Werkstatt
für Spezialanfertigungen macht Hartmann
zu etwas Besonderem.
Insgesamt gibt es drei Filialen: Die in der
Pichelsdorfer Straße, eine in Wilmersdorf
und eine in Neukölln. Die eigentliche
Werkstatt befindet sich in Wilmersdorf, erzählt
die kaufmännische Angestellte Bärbel
Zech. Hier in der Pichelsdorfer Straße
werden Leisten, Einlagen und Bettung gefertigt.
Die Spandauer Filiale war die erste:
Sie wurde vom Schuhmachermeister-Ehepaar
Maria und Josef Hartmann 1948 eröffnet,
zu einer Zeit, in der die Pichelsdorfer
Straße eine gute Einkaufsmeile mit vielfältigen
Geschäften für jeden Bedarf war.
Bärbel Zechs Mann Philip Zech übernahm
1989 das Hartmann-Stammhaus. Er hatte
in der Pichelsdorfer bei Hartmanns seine
Meister-Anerkennungsjahre gemacht. Bärbel
Zech selbst ist examinierte Ergotherapeutin
und mittlerweile seit 25 Jahren in
der Filiale in der Pichelsdorfer Straße tätig.
In diesen Jahren hat sich vieles verändert:
die Kunden sind älter geworden, manche
in die neuen großen Geschäfte der Altstadt
abgewandert. Die Nachfrage nach orthopädischen
Spezialschuhen für Kinder ist seit
den 80ern enorm gesunken, deshalb führt
Hartmann auch keine Kinderschuhe mehr
im Sortiment.
Bei den Spezialanfertigungen aber ist alles
möglich: Kinder- wie Erwachsenenschuhe,
klassische und ausgefallenere Modelle –
von schlichten Schnürschuhen über Turnschuhe
im Wunschdesign bis hin zu pinken
Loafers aus Lackleder mit Kroko-Prägung:
Heute müssen orthopädische Spezialschuhe
nicht mehr altbacken und klobig
aussehen. Zu abgefahren dürfen die Designs
natürlich auch nicht sein: Alles muss
im Rahmen der medizinischen Notwendigkeit
bleiben, sonst zahlen die Kassen nicht.
Auch Bärbel Zech trägt Bequemschuhe.
Die dreifache Mutter leitet die Geschäfte
ihres Mannes – im Grunde ist es ein Familienbetrieb
wie eh und je. Doch in der Wilhelmstadt
hat sich vieles verändert. „Heute“,
erzählt Bärbel Zech mit Blick auf den
Leerstand auf der gegenüberliegenden
Straßenseite, „denken selbst besser situierte
Kunden über jede Investition nach.“
Im Unterschied zur Wilmersdorfer Filiale:
„Da lassen sich die Kunden manchmal
auch Schuhe ohne Rezept fertigen, um
nicht extra zum Arzt zu müssen.“
Bärbel Zech ist es nicht egal, was aus der
Wilhelmstadt wird. Mit den Inhabern der
benachbarten Geschäfte steht sie in regem
Austausch. Man hilft sich und engagiert
sich, wo man kann. Dieses Jahr übernimmt
Bärbel Zech daher auch die Organisation
einer gemeinsamen Aktion mehrerer Wilhelmstädter
Gewerbetreibender, die vom
Gebietsfonds gefördert wird: Wie schon im
letzten Jahr werden vor etlichen Geschäften
im Kiez beleuchtete Weihnachtsbäumchen
stehen: „Die Idee, einheitlich geschmückte
Bäume vor den Geschäften zu
haben, fand ich einfach toll. Und mit Logistik
und Abrechnung haben wir hier ja
ständig zu tun – daran soll es nicht scheitern.“
Bärbel Zechs Gefühl für den traditionellen
Standort lohnt sich: Manche Stammkunden
halten der Filiale in der Pichelsdorfer
Straße nun bereits seit 65 Jahren die Treue:
„Einige waren schon als Kinder hier, kommen
nun mit eigenen Kindern und Enkeln
wieder und erzählen von alten Zeiten. So
etwas macht glücklich und ist eine schöne
Bestätigung, dass ein Einzelhandel mit festem
Standort auch heutzutage noch seine
Berechtigung hat.“