30.04.2013 taz. die tageszeitung


Ganz weit draußen


Ganz weit Draußen Bild ©Eva-Lena Lörzer

MIETE Als Kind in der DDR träumte Markus P. von Australien. Jetzt lebt der Hartz-IV-Empfänger in Spandau - und hasst es. In Wilmersdorf hat er keine für ihn bezahlbare Wohnung mehr gefunden. Weil er sich nicht als Symbolfigur im Protest gegen steigende Mieten eignet, geschah seine Verdrängung still und leise.



Mit angestrengtem Gesichtsaufdruck kauft Markus P in einem Spätkauf in der Pichelsdorfer Straße ein Bier, ohne dabei Augenkontakt zu dem Verkäufer oder den zwei Männern aufzunehmen, die an einem Stehtisch in der Ecke Bier trinken und Karten spielen. Beim Verlassen des Ladens holt Markus P. tief Luft: „Der Schuppen ist das beste Beispiel, wie die Leute hier drauf sind: versoffen und verkeimt.“ Seit einem Jahr wohnt der gebürtige Brandenburger hier in Spandau Wilhelmstadt.

Unfreiwillig - P., der seinen Klarnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat woanders keine für ihn bezahlbare Wohnung mehr gefunden. 8,93 Euro zahlt man laut GSW-Wohnmarkt-Report in seinem ehemaligen Charlottenburger Kiez inzwischen durchschnittlich bei Neuvermietungen.

P. zahlt in Spandau nur 6, 50 Euro pro Quadratmeter. Angekommen aber ist er dort im letzten Jahr nicht. „Ich kann hier einfach an nichts anknüpfen - und die Infrastruktur lässt auch zu wünschen übrig. Hier gibt es gar keine Kultur.“ Markus P.s Kulturbegriff ist der einer Kneipenkultur: In Wilmersdorf kannte der gelernte Tierpfleger, der sich seit der Wende mit Fabrik- und Gastronomiejobs durchgeschlagen hat, durch seine Arbeit in verschiedenen Kneipen die ganze Szene.

Der 41-Jährige öffnet sein Bier und nimmt einen großen Schluck. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen, wie es dazu kam, dass er seine Wohnung in Wilmersdorf aufgeben musste und keine neue mehr finden konnte, dass er „zwangsumgesiedelt wurde nach Spandau.“ Er setzt mehrmals an und bricht immer wieder ab, erzählt, dass er als Kind von einem Leben in Australien geträumt habe, redet darüber, wie er sich gleich nach der Wende mit einem Privatkredit von 8000 DM in den ersten Flieger gesetzt und nach Amsterdam geflogen sei, einfach raus.

Ein Bier später, in einer lauten Kneipe, erzählt er sie: seine Spandau-Geschichte. Unmittelbar nach der Maueröffnung sieht Markus P. Spandau das erste Mal - aus einem Auto. Sein nächster Kontakt mit Spandau ist genau zwanzig Jahre später und nicht freiwillig: 2009 wird er wegen wiederholten Diebstahls von CDs zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren verurteilt und kommt in den offenen Vollzug der JVA Spandau.

In den zwanzig Jahren zwischen seinem erstem Besuch in Spandau und seiner Inhaftierung liegen viele Stationen: vier Monate Amsterdam, wo er von seinem Kredit lebt, ein Jahr als Stapelfahrer in Zürich, drei Monate Zeitarbeit in München und Jahre als Barkeeper, Kellner und DJ in den verschiedensten Berliner Etablissements. Die längste Zeit arbeitet er als Barkeeper in Wilmersdorf, wo er eine Altbauwohnung am Ludwig-Kirch-Platz findet und die Miete von 345 Euro nur durch Wohngeld vom Jobcenter bezahlen kann.

Während der Fußballweltmeisterschaft 2002 erzählt ihm eine Kneipenbekanntschaft, dass man mit Fußballwetten schnell an viel Geld kommt. Markus P. versucht es und endet in Spielsucht und Schulden. Durch CD-Diebstähle versucht er, seine Spielsucht zu finanzieren: „Ich habe ordentlich geklaut. Unter jeder Achsel immer einen Stapel neuester Doppelalben, die ich nach dem Kopieren verkauft habe. Das Geld habe ich dann wieder verspielt.“

In der JVA Spandau warnen ihn Mitgefangene, dem Jobcenter bloß nicht zu melden, dass er sich im offenen Vollzug befindet – dann würde er seine Wohnung verlieren und nie wieder eine vergleichbare kriegen. Markus P. hört auf den Rat. Bis zu einem halben Jahr im offenen Vollzug, so die gesetzliche Regelung, zahlt das Jobcenter den Wohngeldsatz weiter. Nach etwa einem Jahr findet Markus P. eine Beschäftigung bei einer Zeitarbeitsfirma.

Durch die Arbeitsanmeldung beim Sozialarbeiter der JVA fliegen seine Wohngeldbezüge auf. Er wird gezwungen, seine Wohnung zu kündigen. Das Verschweigen des offenen Vollzugs und das Weiterbeziehen von Wohngeld gelten juristisch als Erschleichen von staatlichen Leistungen: Markus P. kommt für die letzten vier Wochen seiner Strafe in den geschlossenen Vollzug. Die Arbeit in der Zeitarbeitsfirma verliert er.

Nach seiner Entlassung ist das Jobcenter Wilmersdorf für seine Reintegration zuständig. Er wird in ein Obdachlosenheim geschickt. Da er sich weigert, ein Zimmer zu teilen, bekommt er ein Doppelzimmer für sich: „Das schäbige Zimmer hat den Staat mehr gekostet als meine Wohnungsmiete - 760 Euro pro Monat. Ich hatte gerade einen guten Sozialarbeiter, der mir geholfen hat, meine Schulden in den Griff zu kriegen, und da sagt diese Sachbearbeiterin im Jobcenter, eine Wohnung könne ich vergessen ohne Arbeit. Damit war der Fall für sie erledigt.“

Markus P. macht sich selbst auf die Suche. Er zieht durch die Straßen, klappert Hausverwaltungen ab und bewirbt sich auf alle Wohnungen, die er findet. Aber mit seinem polizeilichen Führungszeugnis, einer negativen Schufa-Auskunft und ohne Mietschuldenfreiheitsbescheinigung hat er keine Chance.

Nach neunmonatiger Suche hört er durch Zufall vom geschützten Marktsegment. Das geschützte Marktsegment ist ein Vertrag zwischen Bezirksämtern und Wohnungsunternehmen: Eine zentrale Stelle vermittelt Wohnungen an Obdachlose oder sozial Schwache, die auf dem Wohnungsmarkt keine Chancen haben. Markus P. beginnt zu recherchieren und erkundigt sich nach Wohnungen in WIlmersdorf.

Überall die gleiche Auskunft: Die Wohnungen, die vermittelt werden, liegen in Marzahn, Hellersdorf und Spandau. „Die haben einfach gesagt: Wilmersdorf, Charlottenburg dat könn` Se verjessen, da kriegen wa erst Janisch rin.“ Nach neun Monaten Obdachlosenheim will Markus P. nur noch weg und bewirbt sich auf eine 1-Zimmer-Wohnung in Spandau.

„Da standen schon richtig viele, nur Hartz IV-Empfänger. Ich hatte meine besten Sachen an und bin an allen vorbei zu dem Makler. Dem habe ich einfach meine Geschichte verschwiegen und hatte dann auch gleich den Vertrag in der Hand.“ Viel von Spandau gesehen hat Markus P. seitdem nicht. Sooft wie möglich fährt er nach Wilmersdorf.

„Sobald ich da bin, fühle ich mich besser. Da habe ich wieder ein anderes Selbstvertrauen und damit ein ganz anderes Auftreten. Keine Ahnung, was ich hier für eine Ausstrahlung habe, aber die Leute reagieren alle unfreundlich auf mich – es ist, als wäre ich hier verurteilt. Verurteilt zum Einsamsein.“ Demnächst will sich Markus P. wieder auf die Suche nach einer neuen Wohnung machen – in Wilmersdorf. Diesmal wird er zumindest eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung haben. .

Die Reportage ist in veränderter Version publiziert worden. Dies ist die ursprüngliche Fassung.