11.12.2015Die WeLT, Politik


Im Osten was Neues


© Fotos Stephan Floss

Das Spatzennest im sächsischen Striegistal ist eine von zehn Willkommens-Kitas bundesweit, in der Flüchtlingskinder besonders gut integriert werden sollen. Doch selbst hier gibt es bittere Momente.

Auf den ersten Blick geht es in der Kita Spatzennest im sächsischen Örtchen Striegistal zu wie überall auch im Land. Kinder toben durch die Gegend, es wird gemalt, gebastelt und gesungen. Doch das Spatzennest ist anders, in gewisser Weise ist es sogar fast einmalig in Deutschland. Seit 2014 wird der Integrationskindergarten mit einem Coach, interkulturellen Schulungen und einem Expertennetzwerk bei der Aufnahme und Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien unterstützt. Willkommens-Kita heißt das offiziell, und das Örtchen rund 50 Kilometer entfernt von Dresden ist einer von erst zehn Standorten bundesweit – alle davon in Sachsen.

Anton (alle Kindernamen im Text geändert, d. Red.) wird heute sechs und von der Gruppe im Stuhlkreis gefeiert. Nach "Hoch soll er leben!" wird das Geburtstagskind von allen einzeln beglückwünscht. Alim ist als Dritter an der Reihe. Der syrische Junge geht erst seit wenigen Wochen in den Kindergarten und spricht noch kaum Deutsch. Er umarmt Anton zaghaft und flüstert ihm leise ins Ohr. "Alim hat herzlichen Glückwunsch gesagt! Ich hab's genau gehört, ganz, ganz deutlich!", sagt Anton begeistert.

Alim ist nicht der einzige Neuzugang der Vorschulspatzen. In den vergangenen Monaten gab es in der Gruppe gleich drei Eingewöhnungen: Auch Meral aus dem Kosovo und Adriana aus Serbien sind neu in die Gruppe gekommen. Die drei Kinder leben im Ortsteil Mobendorf zusammen mit ihren Familien in den Bungalows eines ehemaligen Kinder-Ferienlagers, bis über die Asylanträge der Eltern entschieden wird.

Initiiert wurde das Projekt Willkommens-Kita 2013 von der deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), um Kindergärten bei der Aufnahme von Flüchtlingskindern zu bestärken, nachdem die rechtsextreme NPD gegen eine geplante Erstaufnahmestelle im sächsischen Schneeberg protestiert hatte. 2014 lief das Modell in vier sächsischen Kindergärten an.

Das sächsische Projekt könnte zu einem bundesweiten Modell werden. Axel Möller, Projektleiter der Willkommens-Kitas beim DKJS, sagte der "Welt": "Zurzeit arbeiten wir gemeinsam mit dem Sozialministerium an einem Programm für 20 Willkommens-Kitas in Sachsen-Anhalt." Und auch aus anderen Bundesländer seien interessierte Nachfragen gekommen.

Die Kinder sollen nach einem Jahr regulär eingeschult werden

Bis zum 8. Dezember wurden offiziell mehr als eine Million Flüchtlinge neu registriert. 68.000 neue Kindergartenplätze, so schätzte Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) Ende September, werden durch den Flüchtlingszustrom kurzfristig benötigt. Laut Caritas-Präsident Peter Neher gestaltet sich der Zugang zu Kindergärten für Flüchtlinge in der Praxis jedoch oft als schwierig. Mit Plätzen alleine sei es nicht getan.

„Man hat schnell das Gefühl, das Rad neu erfinden zu müssen", sagt Kindergartenleiterin Katja Brüggemann über die Schwierigkeiten bei der Aufnahme von Flüchtlingskindern. Das Netzwerk des DKJS mit Experten und Schulungen zu Asylthemen sei da genau die richtige Hilfe. Der Leiterin ist es wichtig, Alim, Meral und Adriana ungeachtet ihres Status auf den gleichen Stand zu bekommen wie den Rest der Gruppe. Im Sommer sollen die drei regulär eingeschult werden. Brüggemann zeigt sich zuversichtlich: "In der Vergangenheit hat das gut funktioniert."

Im Spatzennest wird Willkommenskultur nicht erst seit gestern gelebt – was auch am Ort liegt. In Striegistal wohnen bereits seit 20 Jahren Menschen aus 21 Nationen friedlich zusammen; zurzeit leben alleine im Ortsteil Mobendorf 220 Flüchtlinge unter insgesamt 615 Einwohnern. Zu offenen Anfeindungen ist es auch in der Kita noch nie gekommen. "Wir machen einfach kein Aufhebens um Neuzugänge", sagt Brüggmannn.

Eine Herausforderung war die Eingewöhnung von Alim, Meral und Adriana dennoch. Außer Alter und Herkunftsland wusste ihre Erzieherin Frau K. am Anfang nichts über die drei. Weder ob sie Traumatisches in ihren Heimatländern oder auf der Flucht erlebt haben, noch wie lange sie bereits in Deutschland sind oder ob sie bereits einmal einen Kindergarten besucht haben. Die Eltern der drei lernen erst Deutsch, Übersetzer gibt es nicht.

„Für unsere Integrationskinder haben wir eine Heilerzieherin, die einmal die Woche kommt. Für die Flüchtlingskinder, die dringend sprachliche Förderung brauchen, aber gibt es noch kein Personal“

Auf Traumata deutet im Verhalten der Kinder zwar nichts hin. Wie es aber in ihnen aussieht, kann niemand sagen. Frau K. brauchte für die Eingewöhnung der drei viel Einfühlungsvermögen. Insgesamt gehen 19 Kinder in die Vorschulgruppe, darunter zwei Integrationskinder. Auch Alim, Meral und Adriana brauchen besondere Förderung. Der Personalschlüssel aber bleibt der Gleiche.

Frau K. schüttelt den Kopf. "Es wird immer schwerer, allen Kindern gleich gerecht zu werden. Für unsere Integrationskinder haben wir eine Heilerzieherin, die einmal die Woche kommt. Für die Flüchtlingskinder, die dringend sprachliche Förderung bräuchten, aber gibt es noch kein zusätzliches Personal."

Die Erzieherin hat die Gruppe für nonverbale Kommunikation sensibilisiert. Durch Filme in anderen Sprachen haben die Kinder ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, alleine aus Tonfall, Mimik und Gestik schließen zu müssen, worum es in einer Situation gerade geht. "Am ersten Tag eines neuen Kindes zeigen wir den Kindern dazu im Stuhlkreis, woher der oder die Neue kommt, und erzählen etwas über das Land und was dort gerade passiert."

Die größten Schwierigkeiten entstehen laut Katja Brüggemann durch mangelnde Planungssicherheiten. Die Kindergartenleiterin weiß nie, mit wie vielen Neuzugängen sie über die nächsten Monate zu rechnen hat und ob einmal eingewöhnte Kinder auch bis zum Schulbeginn bleiben. Es kommt nicht selten vor, dass Flüchtlingskinder nach erfolgreicher Eingewöhnung von einem Tag auf den anderen wegbleiben.

Meist haben die Eltern eine feste Aufenthaltsgenehmigung erhalten und eine Wohnung oder Arbeit woanders gefunden. Aber auch unangekündigte nächtliche Abschiebungen kommen vor. Diese Vorkommnisse der Gruppe zu erklären ist für die Erzieher nicht immer einfach. "Bei Aufenthaltsgenehmigungen freuen wir uns natürlich und sagen den Kindern, dass die Familie da leben kann, wo sie möchte", sagt Katja Brüggemann. Abschiebungen erklärt die Kita nicht. "Wir sagen den Kindern dann nur, dass die Familie in ihr Herkunftsland zurückkehrt."

Während des freien Spiels wirken Alim, Meral und Adriana zunächst etwas verloren. Die drei stehen in der Mitte des Raumes und beobachten den Rest der Gruppe aus der Distanz: Zwei Jungs toben in der Kuschelecke mit einem großen Teddy, ein dritter rennt durch den Raum und imitiert lachend Schießgeräusche. Nach einer Weile nimmt Meral Papier und Stifte aus dem Regal und setzt sich. Adriana und Alim folgen ihr.

Beim Zeichnen unterhalten sich die beiden Mädchen leise auf Albanisch. Die fünfjährige Clara setzt sich zu ihnen, hört ihnen lächelnd zu und sagt: "Noch sprechen sie anders miteinander, aber sie lernen schnell. Bis zur Einschulung reden sie sicher schon fast wie wir." Ob Meral und Adriana aber im Sommer in Striegistal mit den anderen eingeschult werden, ist ungewiss: Der Kosovo und Serbien gelten als sichere Herkunftsländer.



Die Reportage wurde online unter der Überschrift "Eine Kita in Sachsen macht vor, wie Integration geht" veröffentlicht.