November 2011 Stadtkind Hannover


Scientology in Hannover


kocht nur mit Wasser - zumindest auf den ersten Blick


Zwei Besuche bei Scientology Hannover zeigen, dass die Sekte sich in der Landeshauptstadt innerhalb eines Jahres durchaus professionalisiert hat. Man ist zwar weit davon entfernt, sich wie in Hamburg oder Berlin zu präsentieren, aber man schläft nicht – ganz und gar nicht.

Tom Cruise, John Travolta, Kirstie Alley, Juliette Lewis, Beck, Chick Corea, Leah Remini, Priscilla Presley und Lisa Marie Presley, die Liste der Promi- Scientologen in den Staaten ist lang. Scientology bezeichnet sich selbst als Religion, Kritiker sprechen von einem Religionskonzern. In den USA ist Scientology heute als gemeinnützig anerkannt und von der Steuer befreit. In Deutschland wird die Organisation nach wie vor in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet. Ich möchte mir ein eigenes Bild machen und suche Scientology in Hannover auf.

Meine Spurensuche führt in die Odeonstraße, eine zunächst unauffällige Straße hinter dem Bahnhof. Auf den zweiten Blick recht interessant: Hier residieren die SPD-Parteizentrale Hannover, eine Außenstelle von Bündnis 90 die Grünen, ein Bordell, das Hotel Orient, das mit einem halb ausgetrunkenen Kaffeebecher und einem Globus auf dem Fensterbrett vor vergilbten Vorhängen wenig einladend wirkt und im Nachbarhaus, wie nur ein kleines Messingschild verrät: „Scientology Hannover.“

Ohne das Schild ließe sich nur ein Irrtum vermuten. Der Hannoveraner Sitz hat nichts von den prachtvollen Bauten, die Scientology in größeren Städten wie Berlin repräsentieren. Das Haus wirkt wie ein gewöhnliches, wenn nicht gar sanierungsbedürftiges Mietshaus. Es ist fünf vor sechs. Laut des scientologischen Internetauftritts soll um 18 Uhr eine öffentliche Andacht stattfinden.

In meinen mentalen Vorbereitungen mache ich mich bereits auf alles gefasst: Auf ein transparentes palastgleiches Glasgebäude vor dem mehrere Dutzend Prunkkarossen vorgefahren kommen, Anzugträger, die sich in glänzenden Lackschuhen, mit hinter Sonnenbrillen verborgenen strahlenden Augen fliegenden Schrittes durch Glasflügeltüren drängen. Stattdessen: Eine ausgestorbene Straße, ein kleiner Peugeot. Der Fahrer: ein junger Mann mit grünem Irokesenschnitt. Ich warte ab, unentschlossen.

18 Uhr. Immer noch keine Anzugträger, immer noch keine ankommenden Wagen. Zwei Mädchen erscheinen wie aus dem Nichts, betrachten das Messingschild, gehen einen Schritt näher heran, treten zurück und tuscheln hinter vorgehaltenen Händen. Ich gehe auf sie zu. „Wollt ihr da auch rein?“ Eine der beiden nickt, deutet auf die andere und sagt: „Ja, aber sie hat Angst.“ Ich öffne die Tür und sage kurzentschlossen: „Kommt, wir machen das zusammen.“ Im Haus die Enttäuschung. Keine Pappfassade, die eine Kathedrale verbirgt, keine roten Teppiche, keine imposanten Treppen. Stattdessen: eine einfache Stahltür ohne Sicherheitsschloss, ein winziges Klingelschild.

Uns wird sofort geöffnet. Eine ältere blonde Frau mit sportlichem Kurzhaarschnitt in Jeans und Turnschuhen steht in der Tür und fragt etwas verunsichert, was sie für uns tun könne. Wir erklären ebenso verunsichert wir seien zu der öffentlichen Andacht da. Sie schüttelt den Kopf. „Steht das so im Internet, oder was?“ Und immer noch kopfschüttelnd: „Wir haben keine festen Zeiten für unsere Andacht. Meistens ist sie sonntags um 11 Uhr, manchmal auch samstags. Generell findet sie nicht regelmäßig, sondern so alle drei Wochen statt. Wenn Sie sich für die Andacht interessieren, lassen sie doch ihre Kontaktdaten da und wir melden uns telefonisch, um sie zu verständigen, wann die nächste ist.

Ich entgegne, schlecht erreichbar zu sein und füge nach einer kurzen, beredten Stille hinzu, ich werde mich selber wieder melden. Der Punkt ist geklärt und das Gespräch zu Ende. Neugierig schiele ich an der Frau vorbei in die Räumlichkeiten und entdecke eine weitere Frau, die hinter einem Tisch voller Flyer sitzt und einen mürrisch wirkenden mittelalten Mann, der in einem Schaukelstuhl sitzt und Pfeife raucht. Bei allen dreien scheint das von Scientology propagierte Erfolgsmodell noch nicht ganz aufgegangen zu sein. Die blonde Frau bemerkt meinen herumschweifenden Blick und winkt mich heran. Ich betrete zögernd die Räume, die beiden Mädchen folgen, immer einen Schritt hinter mir. Wir stehen in einem Raum, der das Büro einer Taxizentrale sein könnte: klamm und verraucht, die Möblierung dunkel, an den Wänden Karten und Graphiken.

Ich frage, wie öffentliche Andachten bei Scientology aussähen. Das Lächeln um die Lippen der Frau verrät, dass sie nicht geschult worden ist, mit Unwissenden umzugehen. Sie deutet auf eine graphische Darstellung aller Werke Hubbards und erklärt, eine Andacht sei wie eine Session, in der philosophische Kolloquien zu den Texten gegeben würden. „Und heilige Gegenstände gibt es nicht?“ insistiere ich und sie sucht aus einer Schublade den Werbefilm Scientologys heraus und gibt jedem von uns ein Exemplar in die Hand mit den Worten: „Schenke ich Ihnen, da können sie sich selbst informieren.“

Ich frage, was das Kreuz auf dem Cover für eine Bedeutung habe. Sie erklärt mir, das sei ein Kreuz mit acht Spitzen, die die acht Dynamiken des Lebens darstellten, durch die jeder Mensch zu überleben versuche: den Drang zum Überleben als Individuum, den Drang zum Überleben durch Fortpflanzung, den Drang zum Überleben als Gruppe, den Drang zum Überleben als Menschheit, den Drang zum Überleben des materiellen Universums, den Drang, als geistiges Wesen zu überleben, den Drang zum Dasein als Unendlichkeit.

Ich nicke angestrengt im Versuch, mir dies alles zu merken. Sie nimmt mein Nicken als Interesse und sagt: „Wir sind hier noch nicht so weit, einen festen Ort für die Andachten zu haben, der Raum muss jedes Mal neu eingerichtet werden.“ Mit einem beseligt wirkenden Strahlen fügt sie hinzu: „Doch das können Sie sich ja bei der nächsten Andacht selbst ansehen.“

Die beiden Mädchen betrachten die Graphik: „Wow, das sind ja viele Bücher. Und die muss man alle gelesen haben, um etwas zu verstehen?“ Die Frau lächelt. „Ja, die werden hier gemeinsam erarbeitet, in einer Art philosophischen Bewusstseinsschulung“. „Also ist das wie eine Art Philosophie, der Glaube hier?“ fragt die bislang still gebliebene der Beiden. Die Frau nickt begeistert. „Eine Philosophie, genau. Deswegen sind wir ja auch nicht als Kirche registriert. Bei uns kann jeder seinen Glauben behalten: Muslime, Buddhisten, Christen, alle können zu uns kommen. Wir sind eine weltlich zugewandte Gemeinschaft mit angewandter Philosophie.“

Sie deutet auf ein Buch mit dem Titel: 'Knowing the evil'. „Sehen Sie, Hubbard hat sogar über Radioaktivität geforscht. Er hat alle wesentlichen weltlichen Phänomene erforscht und hilft einem dadurch, mit allem umzugehen, seien es Klimakatastrophen, Strahlenbelastung oder Erfolgsdruck.“

Ich frage, ob ich die unter der Graphik ausgelegten Flyer mitnehmen dürfe. Dabei bücke ich mich bereits, um nach einem zu greifen und werde mit einem energischen, wenn auch freundlichen Ruck am Arm wieder hochgezogen und auf andere Flyer auf einem Tisch hingewiesen, die für meine Erkenntnisstufe angemessen seien. Die dort unten, wird mir erklärt, seien nur für Fortgeschrittene. Ich spüre die Blicke aller drei Scientologen auf mich gerichtet und verabschiede mich mit dem Versprechen, mich wegen der Andacht telefonisch zu melden.

Zurück auf der Straße: Vogel zwitschern, ein Betrunkener, der mich fragt, ob das Haus ein Bordell sei und dem ich antworte, da sei er entschieden an der falschen Adresse. Zuhause sehe ich mir den Film an. Nach einer halbstündigen Scientologyeinführung, in der Hubbard als ein Wunderkind portraitiert wird, das nach ethnographischen Feldzügen und langen Studien einfache Lösungen für alle weltlichem Probleme entwickelt hat, folgen schöne, junge Amerikaner, die sich vor der Kamera strahlend zu Scientology bekennen.

Bemerkenswert an dem Film ist jedoch nicht die halbstündige Scientologywerbung, die die vermeintliche Religion als käufergerechtes Produkt für alle Lebenslagen vermarktet. Es ist die darauf folgende mehrstündige Serie gekonnt gemachter Kurzvideoclips für Menschenrechte. Scientology als Menschenrechtsorganisation. Unter dem Deckmantel von „Youth for human rights“ hat Scientology die Menschenrechte neu erfunden. Pro Menschenrecht ist auf der Werbe-DVD ein künstlerisch anspruchsvoll gemachter Kurzclip zur Veranschaulichung.

Nur ein Menschenrecht wurde ausgetauscht: gegen das Recht auf Religionsfreiheit. Ich google und stoße auf einen Spiegel-Artikel von 2009, laut dem bereits zwei deutsche Fernsehsender die Clips gesendet und mehrere deutsche Schulen vermeintliches Aufklärungsmaterial der Organisation bestellt hatten.

Hannover, Odeonstraße, genau ein Jahr später. Gleicher Tag. Gleiche Zeit: Sonntag, 18 Uhr. Laut scientologischem Internetauftritt nach wie vor Zeit der öffentlichen Andacht. Wie erwartet findet keine Andacht statt. Doch die Scientologyzentrale Hannover, laut Klingelschild Scientology Hamburg, hat sich verändert: Alles ist heller gestrichen, eingerichteter. Kein Rauchgeruch, kein Taxizentralenflair. Auch die dort arbeitenden Personen wirken kompetenter und fröhlicher. Überall hängen Posterwerbungen des Dianetikbuches Hubbards, auf denen ein ausbrechender Vulkan abgebildet ist mit der Aufschrift: „Sie sind Teil eines Abenteuers! HIER IST DIE WEGKARTE.“

Die sehr souverän lächelnde Frau, die mich hereinlässt, heißt mich sofort im Nebenraum Platz nehmen. In dem Raum befinden sich mehrere Stühle, ein großer Fernseher, ein Tisch, ein Schreibtisch und ein Regal mit allen Ratgeberbüchern Hubbards. Sie fragt: „Und? Was bringt Sie zu uns?“ Ich habe mir im Vorfeld zurechtgelegt zu erzählen, dass ich am Wochenende in Berlin einen Stresstest gemacht hätte und nun mehr über Dianetik erfahren, eine Andacht besuchen und den Persönlichkeitstest auswerten lassen wolle. Das rattere ich genau so herunter und bemühe mich dabei zu lächeln.

Die Frau sieht mich erstaunt an. „Haben sie den Test bereits ausgefüllt?“ Ich nicke. „Ja. Zuhause.“ „Na, wenn das so ist?“ Nun lächelt sie begeistert. „Für eine Andacht sind heute zu wenige Menschen da. Aber wenn Sie mögen, kommen Sie doch morgen wieder. Ab 17 Uhr ist die Verantwortliche für die Tests da.“ Sie denkt einen kurzen Augenblick nach und sagt dann: „Um 18 Uhr könnten wir auch noch eine Andacht machen, zu der dann mehr Menschen kommen. Für Sie alleine wäre es jetzt etwas aufwendig. Und zu mehreren macht es ja auch mehr Spaß, nicht wahr?“

Am nächsten Morgen recherchiere ich den Persönlichkeitstest. Laut sämtlicher nicht scientologischer Internetquellen handelt es sich hierbei um einen pseudowissenschaftlichen Test, der sich, um Seriosität vorzugaukeln, Oxford Capacity Analysis nennt und generell, auch bei langjährigen Scientologymitgliedern, negativ ausfällt. Ich überfliege ihn kurz. Auf dem Formular, das man eigentlich online ausfüllen und mit all seinen Kontaktdaten versehen an die Scientolgyzentrale in den Staaten schicken soll, um einen Termin zu einer Auswertung zu beantragen, steht, es handle sich um einen Persönlichkeitstest, der einem aufzeige, wie die eigene Persönlichkeit es schaffe, mit Stresssituationen umzugehen und individuelle Stressauslöser zu ermitteln.

Der Test beinhaltet zweihundert Fragen. So zum Beispiel unter Anderem: „Würden Sie es bevorzugen in einer Position zu sein, in der Sie keine Entscheidungen treffen müssen?“, „Sind Sie oft impulsiv in Ihrem Verhalten?“, „Haben Sie Probleme damit, den Rat anderer anzunehmen?“, „Würden Sie lieber Befehle geben als Befehle auszuführen?“, „Könnten Sie sich mit strenger Disziplin anfreunden?“ und: „Finden Sie die Vorstellung eines kompletten Neubeginns beunruhigend?“

Ich fülle ihn schnell auf einer Bank vor dem Bahnhof aus. Mögliche Ankreuzoptionen sind: Ja oder meistens ja, vielleicht oder unsicher und nein oder meistens nicht. Ich beantworte alles, bis auf vier Fragen, die sich um Gehorsam und Verschwiegenheit drehen, ehrlich. Es kann losgehen.

Die Testauswertungsverantwortliche, eine sehr charmante, fließend Deutsch sprechende Französin, die immerzu lächelt, ist gerade am Telefon, als sie mir die Tür öffnet. Während sie mich hereinwinkt sagt sie: „Yes. I just got visitors here but afterwards you must tell me what happened in Hamburg.“ Sie heißt mich setzen, nimmt mir gegenüber Platz, sieht mir tief in die Augen und fragt, wie ich zu Scientology gefunden hätte. Ich wiederhole die Stresstestgeschichte.

Nach dem sehr einseitigen Kennenlerngespräch zeigt sie mir das Regal mit allen „Kursbüchern der Lehre Hubbards“ und erklärt, dass die Filiale hauptsächlich Seminare anbiete, bei denen die Lernenden eigenständig in einem großen Seminarraum unter Aufsicht eines Überwachers mit unterschiedlichen Kursbüchern arbeiteten. „Überwacher“, fügt sie schnell hinzu, „klingt nur komisch. Er wacht nur darüber, dass auch alle Fortschritte machen.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie mit fester Stimme hinzu: „Solche Kurse kosten natürlich etwas.“

Ich sehe sie fragend an. Sie sieht mir wiederholt tief in die Augen und sagt dann: „Für Anfänger ist der erste Kurs natürlich umsonst. Und zuerst muss jeder selber lesen, bis er überzeugt ist. Ich sage immer: Jeder kann alles nur für sich selbst deuten. Daher muss auch jeder selber lesen.“ Sie steht auf und geht zu einem Bücherregal neben einem kleinen weißen Schreibtisch: „Das sind Hubbards Bücher. Hier, sehen Sie , dieses ist ein Kursbuch dazu, wem man vertrauen kann.“ Das Titelcover zeigt einen schwarzen und einen weißen Hut an einem Ast hängen. „Das ist ganz wichtig zu lernen. Da denkt man: was für ein netter Mensch! Und dann: was für ein Arschloch. Passiert, ne?“ Sie lacht.

Sie nimmt meinen Persönlichkeitstest entgegen und entschuldigt sich, dass sie die Auswertung nicht vor der Andacht schaffen werde. Dann fragt sie, ob ich mir so lange vielleicht ein Video ansehen wolle. Ich nicke und sie stellt ein Video an, das Hubbard in den 60-ern im Interview mit einem Journalisten zeigt. Während sie mit der Fernbedienung hantiert, klingelt das Telefon. Sie entschuldigt sich und nimmt ab: „Hey, ja. Schön, dass du anrufst. Ja, die Andacht findet heute statt. Um sechs, ja. Wir warten.“ Sie legt auf. „Das war eine, die unbedingt an der Andacht teilnehmen möchte. Es macht doch nichts, auf sie zu warten, oder? Je mehr, desto mehr Spaß, oder? Dann schaltet sie das Video an und sagt: „Das ist das einzige Interview, das mit Hubbard existiert.“

Hubbard lacht im Interview mit einem sehr bekokst aussehenden Journalisten breit und sagt: „Ich habe nie einen Pfennig an Scientology verdient.“ Na dann. In der Zwischenzeit treffen Menschen zur Andacht ein. Sie bleiben im Vorraum stehen, tuscheln und lachen. Die Französin kommt, schaltet das Video mitten im Film aus und sagt: „Es geht los! Sie können gerne morgen wiederkommen und weiter gucken.“ Ich frage, ob das Interview auch online verfügbar sei und sie antwortet: „Sie sollten lieber mit Lesen beginnen. Haben Sie schon das Dianetikbuch gekauft? Als erstes sollten Sie das Dianetikbuch lesen. Den Film können Sie immer gerne hier weiter sehen. Hier können Sie ganz bequem und ungestört sitzen. Wir haben täglich von 10-17 Uhr geöffnet. Kommen Sie jetzt!“

Nach den anderen werde ich in einen kleinen Seitenraum geführt, der zur Straße hinausgeht und durch blaue Vorhänge sichtgeschützt ist. Die Wände sind holzvertäfelt, der Boden mit blauem Teppich versehen. Vor den Fenstern hängt eine Großleinwand, neben ihr steht ein kleiner Fernseher, auf dem Teppich stehen Boxen. Mittig im Raum steht ein Rednerpult, auf dem Boden daneben ein großes gerahmtes Foto Hubbards.

Zwei Reihen mit braunem Samt bezogener, in Höhe voneinander abgehobener Klappstühle erinnern an Kino. In die Rückwand des Raumes ist ein kleiner Kasten mit einem Beamer eingelassen. Kurz überlege ich, ob sich in dem Beamer eine versteckte Kamera befindet. Ich nehme zusammen mit zwei jungen Mädchen in der hinteren Reihe Platz. In die vordere setzen sich ein Mittvierziger und die blonde Frau meines ersten Scientologybesuches.

Der Mann in der vorderen Reihe witzelt: „War ja klar. Die Feigen setzen sich nach hinten!“ Er lacht. Ein müde aussehender Mann betritt den Andachtsraum verspätet und setzt sich auch in die hintere Reihe. Ich werde vor Andachtsbeginn als interessierte Neue vorgestellt und mit großem Interesse von allen Seiten gemustert. Die Frau hinter dem Rednerpult sagt: „Und stellt euch vor, sie ist über Berlin zu uns gekommen. Sie hat dort den Stresstest gemacht!“ Ich nicke stumm. Die blonde Frau vom Vorjahr dreht sich zu mir um, mustert mich eingehend und fragt: „Und sonst? Was haben Sie sonst über Scientology gehört?“ Ich antworte: „Nicht viel“ und frage mich, ob irgendjemand das glauben könnte.

Die Andacht beginnt. Die Rednerin beginnt mit den Worten: „Willkommen zur heutigen Sonntagsandacht.“ Dabei zögert sie keine Minute, obgleich es Montag ist. „ Schön, dass ihr alle gekommen seid! Ist es okay für euch, dass ich heute die Andacht halte?“ Alle bejahen im Chor. Dann liest sie aus einer dicken, goldumrandeten Aufsatzsammlung Hubbards die Grundsätze Scientologys vor, die von Gleichheit und Freiheit handeln. Ich höre zu, denke mir mit Toleranzgedanken lässt sich nichts falsch machen und bin durch die Redundanzen des Vorgetragenen bald so eingelullt, dass mir wenig im Gedächtnis hängen bleibt.

Nach dem Vortrag entschuldigt sich der verspätet gekommene Mann schnell und geht. Die Frau fragt in den Raum: Muss sonst noch jemand gehen? Die Mädchen neben mir tuscheln. Die eine sagt: „Aber nachher machen wir einen Filmabend, ja?“ Die andere antwortet: „Später. Ich habe hier noch im Büro zu tun. Wenn ich alles geschafft habe, kann ich zu dir kommen.“ Sie bleiben und die Frau an der Kanzel gibt Kommandos in den Raum, ohne vorab zu erklären, wozu dies gut sein soll.

„Betrachtet den Raum!“, „Betrachtet alle Personen im Raum ganz genau“. „Merkt euch etwas Auffälliges an jeder Person!“, „Merkt euch die Dinge im Raum!“, „Stapft mit den Füßen auf den Boden.“, „Legt die rechte Hand auf den Kopf.“, „Legt eure Hände in den Schoß!“, „Berührt den Boden!“ „Findet Punkte an der Wand....findet Punkte an der Wand!“, „Findet noch mehr Punkte an der Wand. Findet weitere Punkte an der Wand!“, „Betrachtet euren Stuhl!“, „Fühlt euren Stuhl!“, „Wie fühlt sich der Stuhl an? Warm oder kalt? Weich oder hart?“ Denkt euch die Antworten und sendet sie mir. Sagt laut: „Wer hält den Stuhl?“ Während die Mädchen links von mir kichern, schreit der Mann vorne eifrig: „Ich!“ Dabei zwinkert er in die Runde.

Beim Verlassen des Raumes zeigt die Frau, die die „Andacht“ gehalten hat, auf eine Art Gästebuch und sagt: „Ihr habt jetzt sicher ganz viele Gefühle und Gedanken! Wer immer mitteilen möchte, was er fühlt und denkt, kann es hier tun!“ Keiner schreibt etwas auf. Ich entschuldige mich damit, mich überladen zu fühlen. Überladen bin ich tatsächlich. Seit ich die Räumlichkeiten betreten habe, war es keine Minute still. Die Bucherklärungen, der Film, die Andacht, die Übung.

Als ich gerade durchatmen möchte, kommt die Französin auf mich zu: „Ich habe Ihren Test jetzt ausgewertet! Folgen Sie mir.“ Sie bringt mich durch einen Kursraum, in dem ich mit einem schnell streifenden Blick einen so genannten E-Meter, eine einfache Form eines Lügendetektors auf einem Tisch erhasche, in einen Raum mit Ausblick auf die Mülltonnen im Hinterhof. In dem Raum ist gerade einmal Platz für einen Tisch mit zwei Stühlen. Wir sitzen uns gegenüber. Sie reicht mir einen Zettel mit der Auswertung meines Persönlichkeitstests.

Der Auswertungszettel zeigt einen Graphen. Auf der linken Seite sind Werte von plus 100 bis minus 100 eingetragen, wobei die Pluswerte einen akzeptablen, die Minuswerte einen inakzeptablen Zustand der von A-J durchnummerierten Eigenschaften bedeuten sollen. Die Eigenschaften mit ihren Pendants sind zum Beispiel: stabil und instabil/zerstreut, glücklich und deprimiert, gelassen und nervös, sicher und unsicher, aktiv und inaktiv, durchsetzungsfähig und gehemmt, verantwortlich (ursächlich) und unverantwortlich und korrekte Einschätzung und kritisch. Ganz rechts ist noch ein weiterer Graph, der IQ-Werte von 200 - 0 anzeigt, obgleich der Test keine IQ-Fragen enthielt.

Die von mir korrekt angegeben Antworten bringen graphisch nachvollziehbare Ergebnisse, wobei die ausformulierten Auswertungsergebnisse Allgemeinplätze sind, die sich jeweils so oder so interpretieren ließen und die Auswertende auf meine Stellungnahme zu dem jeweiligen Ergebnis wartet, bis sie mir genauer erläutert, was die Testauswertung in meinem individuellen Fall heißt. An den Stellen, an denen ich behauptet habe, verschlossener zu sein als ich bin, kommt heraus, dass Aufmerksamkeit wünschenswert ist. „Sie sind unverantwortlich“ sagt sie und sieht mir dabei tief in die Augen. Ich frage sie, worauf sich der Test dabei genau beziehe und sie sagt: „Wenn etwas schief läuft bei Ihnen, dann denken Sie alle Seiten der Situation durch, statt bei sich selbst zu gucken, was Sie falsch machen.

Auch der Punkt Kommunikationsstufe ist bei mir im Minusbereich. Sie lächelt gewollt empathisch: „Sie sind ein gefühlskalter Mensch. Sie können sich andern nicht öffnen.“ Ich betrachte meinen Auswertungszettel genauer. Der stärkste Negativausschlag ist bei kritisch zu erkennen. Ich frage, weshalb „kritisch“ auf dem negativen Graphen sei. Ich habe gelesen, dass bei Scientology Wörter neu definiert werden und bin gespannt, was kritisch bedeuten könnte. Sie erklärt es mir: „Wissen Sie, kritisch, das kennen sie vielleicht von Theaterkritiken, Filmkritiken usw. Da scheint es positiv. Aber kritisch heißt in Wahrheit, dass man Menschen und Dinge mit misstrauischen Augen ansieht und sie bewertet und beurteilt. Und das ist sehr, sehr gefährlich.“

Sie scheint zu spüren, dass ich nicht ganz überzeugt wurde und fragt, was mein größtes persönliches Problem sei. Dabei sieht sie mir so tief in die Augen, als wolle sie mich hypnotisieren. Ich sage schnell das Nächstbeste, was mir einfällt und will das Gespräch beenden. Sie hakt nach. Stellt eine Frage nach der anderen und sieht mich dabei mit tiefem Mitgefühl in den Augen an. Dann sagt sie in verständnisvollem Ton: „Das ist schlimm. Aber daran kann man arbeiten!“ Ich sehe sie mit einem Blick an, der ihr signalisiert, dass ich nicht gewillt bin, mich weiter zu öffnen und sie sagt etwas resigniert: „Man kann an allem arbeiten. Nichts ist unveränderlich.“ Ich merke, dass mein analytischer Verstand auszusetzen beginnt, fühle mich aufgewühlt und verstört und sage, dass ich gehen müsse.

Sie begleitet mich noch zur Tür. Im Kursraum steht der Witzereißer aus der Andacht, den sie mir nun als Seminarleiter vorstellt, vor einer Graphik mit als Smileys dargestellten Seinszuständen. Während ich mich verabschieden will, versucht er mich in ein Gespräch zu verwickeln und einen Kurs anzupreisen, der von allen negativen Erinnerungen befreit, bei Scientology als Clear bezeichnet. Ich sage ihm, dass ich zuerst das Dianetikbuch lesen wolle, wie mir geraten wurde und mich dann melden werde. Beim Hinausgehen fällt mein Blick auf ein Fax. Da steht: „Achtung! Heute kommt eine Frau! Gebt allen Bescheid...“ Mehr kann ich nicht lesen.

Diese Reportage wurde als Titelgeschichte in stark veränderter Form und - unabgesprochen - unter falschem Autorennamen publiziert. Der Herausgeber Lars Kompa entschuldigte die Namensänderung damit, dass Scientology Droh-E-Mails geschrieben habe, was ganz offensichtlich nicht stimmte: Der falsche Name unter der Reportage war der der Autorin, die die vorige Titelgeschichte geschrieben hatte.