11.01.2016 Die WeLT, Panorama


Von der Nationalsozialistin zur linken Weltbürgerin

©Joanna Kosowska

Vor 35 Jahren begann die jetzt 90-jährige Eva Sternheim-Peters ihre Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus aufzuschreiben. Um ihr Buch „Habe ich denn allein gejubelt?“ zu finanzieren, vermietete sie Zimmer ihrer Wohnung. Zunächst an Touristen, später an Flüchtlinge. Daraus entwickelte sich ein Engagement in der Flüchtlingshilfe

Eva Sternheim-Peters steckt sich eine Zigarette an, stellt den Messingaschenbecher in die Mitte des Küchentisches und nimmt einen langen Zug. Dann deutet sie auf die holzvertäfelte Sitzecke neben sich und sagt mit charismatischem Lächeln: "Hier bitte. Da sitzt man am Bequemsten. Auf der Bank haben auch schon Dutschke und Meinhof gesessen."

Ihrem hastigen Rauchen merkt man die Aufregung der letzten Wochen an. Von einem Tag auf den anderen wurde die 90-Jährige zur beachteten Autorin: mit einem Buch über ihre Jugend als begeisterte Nationalsozialistin, das sie vor nunmehr 35 Jahren geschrieben und 1987 erstmals in einem kleinen linken Verlag publiziert hat.

Seit Anfang Dezember, als "Habe ich denn allein gejubelt?" neu erschienen ist, wurden mehr als 8000 Exemplare verkauft, zwei Zeitungen druckten Auszüge, viele Leser standen einfach vor ihrer Tür. Drei Lesungen hat Sternheim-Peters seitdem gemacht, drei weitere stehen noch in diesem Monat an.


Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten war Eva Sternheim-Peters acht Jahre alt. In ihrem halb autobiografischen, halb wissenschaftlichen Buch schildert sie auf ehrliche und analytische Weise, wie sie bald zur begeisterten Hitler-Anhängerin und Jungmädel-Führerin wurde.

Man merkt Sternheim-Peters an, wie lange sie auf eine Auseinandersetzung mit ihrem Buch gewartet hat: Die Sätze sprudeln förmlich aus ihr heraus. Immer wieder springt sie auf, um Dokumente zu holen, zeigt stolz die Korrespondenz mit Verlagen und Lesern. Sprechpausen macht sie nur, um ihren wild durch die Wohnung rasenden Katern die Köpfe zu kraulen, Luft holt sie nur beim Anzünden von Zigaretten.

Warum ihr Buch nicht früher mehr Beachtung gefunden hat, versteht Sternheim-Peters bis heute nicht. "Ich dachte, ich schreibe einen Bestseller. Es hieß doch immer, meine Generation solle mal ihre Perspektive erklären. Das habe ich." Sie verschickte das Buch immer wieder an Zeitungsredaktionen und Zeitzeugen. Es half damals wenig.


Die katholisch getaufte und liberal erzogene Eva Sternheim-Peters war überzeugt vom vermeintlichen Sozialismus der nationalsozialistischen Regierung: "Nach der extremen Armut der Weltwirtschaftskrise gab es das Gefühl, es geht wieder aufwärts. Es gab Arbeit für alle, die Armen wurden durch Hilfsorganisationen unterstützt und ständig wurde der Friede besungen."

Einsicht, dass der von ihr geliebte NS-Staat ein Unrechtsregime war, fand die zu Kriegsende 20-Jährige erst bei einer Kinovorführung mit Bildern der Leichenberge im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

"Da herrschte Totenstille", erinnert sich Sternheim-Peters mit leiser Stimme. "Dann brüllte einer: ,Unverschämtheit, uns hier Hungertote aus Indien vorzuführen!' und knallte die Tür hinter sich zu." Doch: "Die Männer und Frauen, die die Toten trugen, waren Deutsche, trugen deutsche Uniformen. Bergen-Belsen lag mitten in Deutschland."

Nach einer langen Stille fügt sie hinzu, dass der Anblick sie genauso schockiert habe wie die nachgeborene Generation. Dass das im Namen des gesamten deutschen Volkes passieren konnte, das hat sie nie mehr losgelassen. Sternheim-Peters' weiteres Leben war geprägt von der Spurensuche: im eigenen Leben und in historischen Dokumenten.


Eine Ewiggestrige aber ist Eva Sternheim-Peters nicht. In den 60ern bewegte sie sich gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann, dem jüdischen Künstler und Publizisten Arie Goral-Sternheim, in der Berliner Künstler- und Intellektuellenszene, später vermietete sie Bettplätze an Studenten und Flüchtlinge, um sich ihr Schreiben leisten zu können. Dass die Tochter von Bildungsbürgern seit der Nachkriegszeit immer linke Parteien gewählt hat, ist für sie auch im Nachhinein kein Widerspruch: Sie hat sich immer als Sozialistin gesehen.

Ihr Buch begann die ausgebildete Lehrerin und studierte Psychologin während ihrer Zeit als Assistentin am Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin Ende der 70er-Jahre. Zehn Jahre lang arbeitete die Autorin an den beinahe 800 Seiten: "Andere schreiben in der Zeit drei Doktorarbeiten. Ich aber wollte meine eigenen Erfahrungen mit einfließen lassen", erzählt sie.

Von ihrem 1996 verstorbenen Ehemann lebte sie beim Verfassen des Buches bereits getrennt. "Sonst hätte ich nie Zeit zum Schreiben gehabt", sagt sie. Nüchtern erzählt Sternheim-Peters, sie habe während ihrer Ehe das Geld verdient, sich um den Haushalt gekümmert und ihrem Mann bei seinen Projekten geholfen. Ihn hätten ihre unterschiedlich erlebte Jugend trotz Ermordung seiner Mutter im Holocaust nie interessiert. Dass er ihr Buch gelesen hatte, habe sie nur in seinem Nachlass an Anmerkungen im Text seines Exemplars erkannt. Gesagt habe er nie etwas dazu: "Mein Mann hat sich nicht gerne mit anderen beschäftigt."

Dass sich nun plötzlich Tausende mit ihrem Buch auseinandersetzen, löst bei der 90-Jährigen gemischte Gefühle aus. "Wäre das 30 Jahre früher passiert, hätte ich noch eine Lesereise um die Welt machen können."


Statt die Welt zu bereisen, hatte sie sie bei sich wohnen: In den 50 Jahren in ihrer Wohnung hat Sternheim-Peters so viele Flüchtlinge aufgenommen, dass sie sie nicht mehr zählen kann.

Der Fall eines 20-jährigen politisch verfolgten Somaliers 1977 ging ihr besonders nah: Sein Heimatland wurde nach der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine "Landshut" in Mogadischu als sicher erklärt, er abgeschoben. "Eines Abends kam ein Anruf vom Flughafen: ,Please help me! They will kill me!' Ich konnte nichts mehr machen. Und habe nie wieder etwas gehört."

Über die derzeitige Flüchtlingspolitik äußert sich Sternheim-Peters entsetzt: "Ich dachte immer, auf die deutsche Organisationsfähigkeit sei Verlass. Das, was da bei der Bearbeitung der Asylanträge passiert, ist eine Schande."

Am Wütendsten aber macht Eva Sternheim-Peters die Aussage, so viele Flüchtlinge seien nicht zu schaffen: "Das wurde schon mal gesagt nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals kamen über zwölf Millionen Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten." Grundvoraussetzung für ein gutes Miteinander aber sei die Unterbringung: "Mit Massenunterkünften kann das nichts werden."

In den nächsten Wochen werden ihre jetzigen Mitbewohner ausziehen. Dann soll wieder eine geflüchtete Familie einziehen. Sternheim-Peters hat sich bei mehreren Vermittlungsorganisationen registrieren lassen und ist gespannt darauf, wer zu ihr geschickt wird.



Die Reportage wurde unter der Überschrift "Mit 90 Jahren plötzlich Beststellerautorin" veröffentlicht.