06.08.2015Die WeLT, Panorama


Zuckerwattenmilch

©Jannis Chavakis

Hannah Wegener hat ihre Tochter gestillt, bis die sieben Jahre alt war. Sie muss sich von ihrer Umgebung viel Kritik anhören. Warum eigentlich?


Vincent ist beim Toben hingefallen. Schluchzend streckt er seiner Mutter die Arme entgegen und sagt: "Laitlait." Laitlait, die Dopplung des französischen Wortes für Milch, ist das Codewort, das die aus Luxemburg stammende Hannah Wegener (Name von der Redaktion geändert) bereits mit Vincents älterer Schwester fürs Stillen hatte. Hannah Wegener setzt sich, und Vincent robbt auf ihren Schoß, zieht den Ausschnitt ihres blauen Tops runter und dockt an.

Die studierte Politologin stillt bereits seit zehn Jahren. Ihre Tochter Natassja hat sich mit sieben Jahren selbst abgestillt, der mittlere Sohn Ruben, der mit Natassja Tandem gestillt wurde, mit zwei. Vincent, der Jüngste, ist viereinhalb und wird nach Bedarf gestillt, meist beim Aufwachen und zum Einschlafen. An Aufhören ist für ihn nicht zu denken. "Es schmeckt sooo guuut.“

Natassja, die sich noch gut an ihre eigene Stillzeit erinnern kann, nickt: "Ich habe es Zuckerwattenmilch genannt. Das Schönste daran aber", erzählt die Zehnjährige, "war das Kuscheln mit Mama". Hannah Wegener lächelt. "Wir haben auch vor Besucherkindern nie ein Geheimnis aus dem Stillen gemacht. Die meisten Freunde der drei sind selber lange gestillt worden, den anderen habe ich es kurz erklärt. Hänseleien deswegen gab es nie."

Obwohl die Weltgesundheitsorganisation seit zehn Jahren empfiehlt, Kinder nach Einführung der Beikost bis zum zweiten Lebensjahr und darüber hinaus zu stillen, gilt das Stillen eines Kindes, das bereits laufen und sprechen kann, als anstößig. Erst vor wenigen Wochen löste das Foto einer Australierin, die ihrer sechsjährigen Tochter die Brust gibt, in den sozialen Netzwerken einen Shitstorm der Superlative aus.

"Normalität ist nun einmal zu einem guten Teil das Resultat einer kulturellen Konsensbildung: Je nach Gesellschaft, in der Menschen leben, empfinden sie es als normal, ein Kind nur vier Wochen lang oder aber vier Jahre zu stillen", schreibt der Autor, Wissenschaftler und Kinderarzt Herbert Renz-Polster in seinem Buch "Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt.“

Auch Hannah Wegener musste sich schon viel anhören: "Dass ich nicht loslassen könne, meine Ehe noch durch das Stillen kaputtginge und meine Kinder nie selbstständig würden." Von Ärzten kam ebenfalls wenig Zuspruch. "Als meine Tochter sechs Monate alt war, hat ihre Kinderärztin geraten, sie wegen ihres hohen Gewichts abzustillen. Hannah Wegener beschloss, nur noch ihrer Intuition und Fachliteratur zu vertrauen. Rückhalt und Gleichgesinnte fand sie bei Treffen der La Leche Liga, einer Organisation, die sich Aufklärung über Stillen auf die Fahnen geschrieben hat.

"Das Einzige, was half, waren Stillen und Tragen" In Deutschland stillen 90 Prozent aller Mütter nach der Geburt. Zum ersten Geburtstag aber stillen 92 Prozent ab. Mit dem Überschreiten der Schwelle vom Baby zum Kleinkind wird Stillen zu Langzeitstillen und zum Tabu.

Hannah Wegener selbst hat als Kind ihre aus Kap Verde stammende Tante ihren zweijährigen Cousin stillen gesehen: "Das hat mich wohl geprägt." Die dreifache Mutter, die ihre eigene Erziehung als Diplomatentochter als einengend empfunden hat, möchte sich bei der Erziehung ihrer Kinder nach deren individuellen Bedürfnissen richten. Auch was das Stillen angeht: "Natassja war hochsensibel und schwer zu beruhigen. Das Einzige, was half, waren Stillen und Tragen. Ruben dagegen war von Anfang an sehr ausgeglichen und hat sich früh selbst abgestillt."

Die Auswirkungen langen Stillens sind weitgehend unerforscht. Die American Academy of Pediatrics kam 2005 nach Auswertung der Fachliteratur jedoch zu dem Schluss, dass es "keine Hinweise auf schädliche Effekte auf die Psyche oder die Entwicklung des Kindes (gibt), wenn ins dritte Lebensjahr hinein oder länger gestillt wird". Eine neue Studie der brasilianischen Universität Pelotas kommt nun sogar zu dem Ergebnis, dass langes Stillen einen positiven Effekt auf die Entwicklung des Gehirns hat. Bereits seit Längerem äußern Mediziner die Hypothese, dass die in der Muttermilch in großer Anzahl vorkommenden langkettigen Fettsäuren die Gehirnentwicklung positiv beeinflussen.

Auch der Hamburger Psychologe Michael Thiel hält Langzeitstillen nicht grundsätzlich für problematisch, sondern "nur, wenn der Wunsch danach allein von der Mutter ausginge". Ihre Aufgabe müsse es sein, feinfühlig auf die Signale des Kindes zu achten und es bei der Abnabelung zu unterstützen, wenn es nicht mehr gestillt werden wolle. „Ein Kind kann sich nur schwer selber aus der engen Bindung loslösen."

Ob und wie lange Frauen stillen, hänge auch stark von ihren Arbeitsbedingungen und der Haltung des Kindsvaters ab, sagt zudem Kinderarzt Renz-Polster. Hannah Wegeners Mann teilt den bindungsorientierten Erziehungsstil seiner Frau und hält ihr den Rücken frei. Der wissenschaftliche Mitarbeiter eines Abgeordneten schultert den Hauptteil des Familieneinkommens, damit seine Frau sich um die Kinder kümmern kann. Hannah Wegener arbeitet an drei Nachmittagen als Nachhilfelehrerin und übernimmt ansonsten die Rolle der "Familienmanagerin". "Ich sehe meine Kinder als Berufung. Nur wenn ich mir Talkshows zum Thema Familienpolitik ansehe, geht es mir schlecht. Erziehung an sich wird nie als Arbeit gewürdigt.“

Die Zahl der Frauen, die 24 Monate oder länger stillen, liegt in Deutschland bei zwei Prozent. Die meisten Mütter müssen und wollen um den ersten Geburtstag ihres Kindes herum wieder arbeiten und stillen zum Wiedereinstieg in die Arbeitswelt ab. Das Mutterschutzgesetz verankert zwar ein Recht auf bezahlte Stillpausen während der Arbeitszeit, an entsprechenden Umsetzungsmöglichkeiten aber hapert es meist.

Nicht nur der Arbeitsmarkt, auch die sexuell geprägte Sicht auf die weibliche Brust spielt beim Abstillen eine Rolle. In Großbritannien etwa, wo Stillen sexuell konnotiert und öffentliches Stillen unüblich ist, stillen 70 Prozent bereits in den ersten acht Wochen ab. Im Jemen wiederum wird langes Stillen gern gesehen, und diskretes öffentliches Stillen gilt als weniger anstößig als offen getragene Haare: Im Koran steht geschrieben, dass Frauen bis zum zweiten Lebensjahr und auf Wunsch auch darüber hinaus stillen sollen.

Hannah Wegener wurde früh mit der sexuellen Doppelmoral konfrontiert: "Als meine Tochter fünf Monate alt war, habe ich sie in einer Fotoausstellung gestillt und wurde von einem Aufseher gebeten, doch bitte auf die Toilette zu gehen. Ich saß genau vor einem zwei mal zwei Meter großen Bild eines eingequetschten Gliedes, und da sollte der Anblick meiner trinkenden Tochter ein öffentliches Ärgernis sein?"

Die dreifache Mutter wünscht sich Gelassenheit: "Frauen sollen selber entscheiden dürfen, ob und wie lange sie stillen. Eine Frau muss nicht stillen, um eine gute Mutter zu sein. Es sagt aber einiges über unsere Gesellschaft, dass es akzeptiert ist, wenn eine Mutter ihrem schreienden Kind einen Schnuller in den Mund stopft, ohne es dabei auch nur anzusehen, und nicht akzeptiert, wenn eine Mutter ihrem Kind die Brust gibt und damit sein Bedürfnis nach Nähe stillt."

Die Reportage wurde unter der Überschrift "Langzeitstillen: Wie gut ist es für das Kind?" veröffentlicht.