September 2015Jahresabschlussbericht des Evangelischen Johannesstifts
Julian und Friedrich* sitzen ratlos an dem langen, alten Holztisch im großen Esszimmer und blicken gedankenverloren zum Fenster. „Partizipation”, denkt Julian laut. „Ja, was ist das? Vielleicht etwas mit anderen unternehmen, ins Kino gehen oder Minigolf spielen zum Beispiel?”. Auch Friedrich, der neben ihm am langen Esstisch sitzt, zuckt mit den Schultern: „Vielleicht Gruppenarbeit? Viel mit anderen zu machen?”
Julian und Friedrich, beide 17, wohnen mit Julians jüngerem Bruder und der Sozialarbeiterin Susanne Spinger in einem geräumigen alten Haus am Spandauer Forst. Hier draußen im Grünen erwartet man keine Wohngruppe. Dabei ist das helle Haus mit seinen neun Zimmern und dem großen Garten der schönste Ort für Kinder und
Jugendliche, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren
Eltern leben können.
Julian und Friedrich finden das Haus besser als die
Mietwohnung, in der sie davor gewohnt haben, nehmen es
aber mit Selbstverständlichkeit. Ansonsten war im Leben
der beiden nur wenig selbstverständlich: Julian und sein
Bruder leben seit acht Jahren in der Gruppe, Friedrich seit
fünf Jahren. Friedrichs Schwester lebt in einer anderen
Einrichtung, an den Wochenenden sieht Friedrich sie. Jedes
zweite Wochenende sind die beiden Zuhause bei ihrer Mutter.
„Zuhause bei Mama” und „Zuhause“ nennen die beiden
Jungs ihre zwei Familien. Denn zu einer Familie ist die
Wohngemeinschaft auch geworden.
Hier geht es zu wie in
jeder anderen Familie: Meinungsverschiedenheiten werden
diskutiert und Entscheidungen nach Mehrheiten gefällt.
Mit Kindern zusammenleben, sie ins Leben begleiten
und dann verabschieden – das macht Susanne Spinger aus
Überzeugung. Sie identifiziert sich mit den Jungs, mit denen
sie zusammenlebt, sie fiebert mit ihnen, zeigt ihnen Möglichkeiten und setzt ihnen Grenzen. Das wissen die Kinder,
die sie bereits begleitet hat, zu schätzen. Sie melden sich als Erwachsene noch bei ihr: „Wenn sie Probleme haben, aber
auch zum Geburtstag.“
Einmal in der Woche muss jeder in der Wohngemeinschaft für die anderen kochen, bei gutem Wetter müssen die Jungendlichen ab und an im Garten anpacken. Sonst müssen sie nichts. Alle Aktivitäten der Jungs – wie ein Selbstverteidigungskurs im Johannesstift – waren Angebote für sie. In den Kurs wollten beide gerne gehen. Julian demonstriert stolz, wie er einen Angreifer abblocken würde. Gebraucht haben die Jungs ihre Abwehrstrategie aber noch nie: Hier in der Umgebung sind Wildschweine die größte Gefahr.
Die grundlegenden Dinge ihres Lebens dürfen die Jungs
selber bestimmen: Wo sie zur Schule gehen wollen, was sie
mit ihrem Taschengeld und ihrer Freizeit anfangen.
Julians
letzte Anschaffung von seinem Taschengeld war ein Fernseher.
„Da habe ich nur bei der Größe ein Veto eingelegt“, sagt
Susanne Spinger. Sie lacht. Julian stimmt in ihr Lachen mit
ein. Dem aufgeweckten Jungen sind andere Dinge wichtiger.
Zum Beispiel, dass er weiter auf die Schule gehen darf, in die
er seit der ersten Klasse geht, obwohl er dafür täglich mehr
als zwei Stunden pendeln muss. Oder dass er seine Freunde
sehen darf, wenn ihm Zeit neben dem Lernen bleibt.
Friedrich ist Schlafen wichtig. Der 17-Jährige schläft gerne – so wie andere gerne fernsehen: „Weil es entspannend
ist.“ Zur Zeit macht er seine Berufsbildungsreife, später
will er Koch werden. Jetzt freut sich Friedrich aber erst
einmal auf die Ferien. Da fahren die Jungs wie jedes Jahr
gemeinsam mit anderen Jugendlichen drei Wochen Zelten.
Davor ist aber noch Friedrichs Abschlussball. Ein Date hat
er bereits, ein Anzug fehlt noch. Blau soll er sein, blau und
schlicht, das ist ihm wichtig. „Das schaffen wir schon“, sagt
Susanne Spinger. Friedrich lächelt.